Zwischen Gewissensentscheidung und Gewinnentscheidung

Heimbetreiber die unter den festgelegten Rahmenbedingungen Gewinn machen oder einen Verlust ausgleichen wollen, setzen vorzugsweise dort an, wo sie keine Vorschrift verletzen.

Solange in den Heimgesetzen der Länder nur eine Fachkraft für den Nachtdienst vorgeschrieben ist, unabhängig von der Anzahl der Bewohner, sind die Nachtdienste in den allermeisten Heime gefährlich unterbesetzt. Man dürfte die Heime in Deutschland an zwei Händen abzählen können, die sich nicht am üblichen Standard der Nachtdienstbesetzung orientieren, sondern daran, was man mit gutem Gewissen gegenüber den Bewohnern und Mitarbeitern verantworten kann. Eines dieser Heime ist das  Haus Marie in Augsburg.  Armin Rieger (siehe Foto), der dieses Haus leitet hat sich darüber hinaus einen Namen gemacht, in dem er nicht nur gegen die widersinnigen Pflegenoten anschreibt, sondern mit seinem Heim ein Zeichen gegen diesen Irrsinn zu setzen versucht. Lesen Sie dazu den  Beitrag vom Juli 2014 auf ZEIT-Online: Der Pflege-Aufstand .  Im August 2014 hat Armin Rieger diese bemerkenswerte Verfassungsbeschwerde  eingereicht.

Im Folgenden nimmt Herr Rieger Stellung zu Fragen im Zusammenhang mit dem Nachtdienst.

Pflege-SHV: Herr Rieger, Sie leiten ein Heim mit 34 Pflegeplätzen für Menschen im fortgeschrittenen Stadium der Demenz. Die Nachtdienste sind bei Ihnen, im Haus Marie, stets mit 2 Pflegekräften besetzt, das entspricht einem Schlüssel von 1: 17. Damit liegen Sie weit über dem Durchschnitt, der bei 1: 50 liegen dürfte. Ihre Kollegen, die nur eine Pflegekraft für 50 Bewohner nachts einsetzen, begründen dies hauptsächlich mit folgenden Argumenten: 1. Nachts schlafen die meisten Bewohner. 2. Die Mitarbeiter die  nachts mehr eingesetzt werden, fehlen im Tagdienst. Wie begründen Sie Ihren Personaleinsatz im Nachtdienst und was sagen Sie zu diesen Argumenten?

Armin Rieger: Diese Argumente sind nicht nachvollziehbar. Gerade demenziel veränderte Menschen haben oft einen veränderten Tag-Nacht-Rhythmus und sind deshalb nachts im Heim unterwegs. Außerdem müssen Dekubitus gefährdete Bewohner auch nachts umgelagert werden. Die Besetzung der Nachtschicht mit nur einer Pflegekraft stellt meines Erachtens den Tatbestand der „Gefährlichen Pflege“ dar.  Auch in kleineren Heimen wie dem unseren, halte ich die Besetzung mit nur einer Pflegekraft für gefährlich und somit unverantwortlich.   Sollte es bei Nacht zu einem Notfall kommen ist diese Pflegekraft gebunden. Eine Versorgung der restlichen Bewohner ist nicht mehr möglich. Kontrollgänge, Umlagerungen, Toilettengänge, sind nicht mehr möglich. Sollte ein zweiter Notfall eintreten, bleibt der betroffene Bewohner ohne  Hilfe  oder der zweite Notfall wird gar nicht mehr wahrgenommen. Schlimmsten Falles kann dies zum Tod eines Bewohners führen.
Das Argument, dass dann bei Tag mehr Personal vorhanden ist, stimmt. Leider muss in vielen Heimen nachts eingespartes Pflegepersonal tagsüber jedoch hauswirtschaftliche Tätigkeiten verrichten. So spart man Hauswirtschaftspersonal und steigert den Gewinn.

Pflege-SHV: Das Hauptargument jedoch sind die Kosten. Da muss man sich nichts vormachen.   Höhere Stellenschlüssel bedeuten höherer Pflegesätze. „ Es geht uns nicht darum Gewinne zu machen, sondern Verluste zu verhindern. Wir sind gezwungen die Preise im Rahmen zu halten, um in der Region konkurrenzfähig zu bleiben.“, erklärte kürzlich ein Heimleiter, der in seiner Einrichtung zwei Nachtwachen für 90 Bewohner einsetzt und diese Besetzung ausreichend findet. Herr Rieger, Sie als Heimleiter müssen doch auch rechnen. Aber offenbar rechnen Sie anders?

Armin Rieger:  Aus rein wirtschaftlichen Gründen ist das Haus Marie unrentabel. Ein Unternehmen mit unseren Umsätzen muss eigentlich mehr Gewinn abwerfen. Bei der Abwägung zwischen menschlicher Pflege und größtmöglichem Gewinn bleibt meist der Pflegebedürftige auf der Strecke. Der Pflegemarkt wurde inzwischen auch von Aktiengesellschaften entdeckt. Wären in der Pflege nicht entsprechende Gewinne möglich, würden diese Unternehmen einen anderen Geschäftszweig suchen. Leider ist es aber so, dass nur mit schlechter Pflege gute Gewinne erzielt werden. Unser Gesetzgeber lässt dies zu. Und nicht umsonst wehren sich die Wohlfahrtsverbände und andere Heimträger dagegen ihre Zahlen zu veröffentlichen. Bei den großen Trägern, egal ob privat, christlich oder wohlfährtig, geht es in erster Linie nur noch um Macht und Geld.

Pflege-SHV: Wir fordern eine Mindestbesetzung der Nachtdienste von 1: 30. Außerdem fordern wir, dass auch kleinere Einrichtungen, wie Ihre, zwei Nachtwachten einsetzen. Beide Forderungen setzen Sie um. Dennoch geht Ihnen das nicht weit genug. Sie halten eine Besetzung von 1:20 für erforderlich um den Bedürfnissen der Bewohner auch oder gerade nachts entsprechen zu können. Welche Erfahrungen legen Sie da zu Grunde? Oder anders gefragt: Womit kann man diese Forderung begründen?

Armin Rieger: Hier muss man differenzieren. In Heimen mit überwiegend geistig fitten Bewohnern ist eine Besetzung von 1.30 mit Sicherheit ausreichend, wobei aber immer 2 Pflegekräfte mindesten anwesend sein müssen. Bei Heimen mit Schwerstpflegefällen und stark demenziel veränderten Bewohnern ist eine Besetzung von 1:20 erforderlich, um eine menschenwürdige Pflege auch bei Nacht zu gewährleisten. Aber es ist eben billiger mit entsprechenden Medikamenten und 3-Liter-Windeln zu arbeiten, als genügend Pflegepersonal einzusetzen. In Heimen mit nur einer Nachtwache werden Bewohner meist schon sehr früh ins Bett gebracht, da eine Pflegekraft in der Nacht das Zu-Bett-bringen nicht stemmen kann. Bewohner die dann nachts aufwachen, weil sie schon sehr früh zu Bett gebracht wurden, werden mit Schlafmittel ruhig gestellt, weil sie sonst den Pflegeablauf stören würden. Jeder weiß das und jeder schaut weg. Und jedes Pflegheim hat eine „eins“ beim Pflege-TÜV. Der Begriff Pflegemafia ist leider nicht aus der Luft gegriffen. Würden die Pflegekräfte nicht ständig an die Belastungsgrenze gehen, wäre die Pflege längst schon kollabiert. Aber vielleicht wäre dieser Kollaps notwendig um Politiker, Kassen und andere Verantwortliche zum Umdenken zu bewegen. Deshalb mein Appell an die Pflegekräfte: Diese sollen nur noch dokumentieren was tatsächlich geleistet wird und statt Leistungen anzukreuzen, die auf Grund des zu geringen Personalschlüssels nicht erbracht werden können, lieber Überlastungsanzeigen schreiben. Denn jeder Haken hinter einer Leistung, die nicht erbracht wurde, ist eine Urkundenfälschung und ein Betrug im strafrechtlichen Sinne. Nicht die Heimleitung oder der Träger begehen diese Straftat sondern die Pflegekraft. Die meisten Pflegekräfte sich sich dessen gar nicht bewusst.

Pflege-SHV:  Ja, das sehen wir genauso.  Viele Pflegekräfte fühlen sich als Opfer des Systems und merken nicht, dass sie den Personalmangel unterstützen, indem sie Maßnahmen dokumentieren, obwohl diese nicht durchgeführt wurden.  Wieso sollte der Personalschlüssel angehoben werden, wenn doch anscheinend (auf dem Papier) das vorhandene Personal in der Lage ist, die Pflege wie geplant durchzuführen?  Für diese Betrügereien gibt es dann noch eine „eins“ beim Pflege-TÜV.   Auf diese Weise machen sich alle etwas vor.  Angefangen von den Pflegekräften, die ihre Macht leider nicht nutzen, um mehr Personal einzufordern, sondern oft sogar noch stolz darauf sind, alleine in der Nachtwache klar zu kommen, um bei unserem Thema zu bleiben. Auch wir appellieren an die Pflegekräfte, sich verantwortungsbewusst vor Ort einzusetzen und eine gefährliche Unterbesetzung nicht mit zutragen, wie es z.B. die beiden Nachtwachen im BRK-Heim getan haben.

Herr Rieger, wir danken Ihnen für diese klaren Worte. Mögen andere Heimbetreiber Ihrem  Beispiel folgen.

Adelheid von Stösser, im August 2014


21.01.2015:   ZDFzoom: Auf Kosten der Alten  – Empfehlenswerter Beitrag der unter Mitwirkung von Armin Rieger zustande kam.

21.04.2015: SWR Nachtcafe: Pflege am Limit – zwischen Hingabe und Pflichtgefühl, unter anderem mit Armin Rieger, der sein gerade erschienenes Buch vorstellt.

24.04.2017: ZDFMittagsmagazin:  Talk mit Armin Rieger

 

 

 

1 Kommentar

  1. Sehr geehrter Herr Rieger,

    …mögen andere Heimbetreiber Ihrem Beispiel folgen. Diesem Wunsch von Frau von Stösser schließe sicherlich nicht nur ich mich an.

    Er wird auf dem Pflegesektor breitgefächert Befürworter gefunden haben. Allerdings wird auch die Angst vor Konsequenzen die meisten Pflegekräfte daran hintern dieses öffentlich zu äußern, und das ist das eigentliche Drama!
    Deshalb möchte ich hier eindringlich alle auf dem Pflegesektor arbeitenden Menschen aufrufen, sich ihr Tun vor Augen zu halten. Die mangelnde Pflege, die oft unterlassene Hilfeleistung, die Straftat der Dokumentation von Pflegeleistungen die NICHT erbracht wurden.

    Die Heimleitungen/Heimbetreiber die noch in der Lage sind MENSCHLICH zu handeln, mögen sich doch Ihrer vollkommen berechtigten Klage anschließen, damit in den Bereich der Pflege endlich POSITIVE Bewegung kommt!

    Ihnen meine ganz persönliche Hochachtung für Ihren Mut und Ihren menschlichen und wertschätzenden Kampf für die zu Pflegenden UND die Pflegenden ohne Rücksicht auf materielle Einbußen.

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