Ein Hauptthema mit dem der Pflege-SHV konfrontiert wird, ist die unzureichende Personalsituation. Pflegemitarbeiter und Angehörige, die sich an uns wenden, verstehen die Berechnungen bzw. Argumente nicht, die ihnen bei Beschwerden von der Heimleitung oder den Prüfbehörden vorgelegt werden. Oft wird diesen erklärt, dass der Personalschlüssel sogar übererfüllt sei, wenn sie wissen wollen, wieso zum Beispiel im Spätdienst regelmäßig nur 2 Mitarbeiter für 25 hilfebedürftige Bewohner im Dienst sind. Von den Nächten ganz zu schweigen. Nach unserer Wahrnehmung spitzt sich die Lage weiter zu. Sowohl im Tag- als auch Nachtdienst beobachten wir in den letzten Jahren eine Verschlechterung der seit jeher mangelhaften Personalbesetzung. Nicht zuletzt hängt das mit dem Personalberechnungssystem zusammen, welches nicht einmal Fachleute wirklich verstehen. Außerdem bietet dieses viele Möglichkeiten den festgelegten Personalrahmen zu unterlaufen. 2013 hat der Pflege-SHV wichtige Zusammenhänge, Daten und Hintergrundinformationen in einem Positionspapier zur Personalsituation in der stationären Pflege aufgezeigt. Dort finden Sie überdies ein alternatives Berechnungsverfahren. Einer der Hauptmitwirkenden an diesem Papier war Andreas Bik, Geschäftsführer der Stiftung St. Ludgeri in Essen-Werden. Er gehört zum aktiven Kern des Pflege-SHV und hat die Vorsitzende, Adelheid von Stösser, Anfang 2006 zu einer Pflegesatzverhandlung mitgenommen, damit diese selbst einmal erlebt, in welcher Weise die Kassen (Versicherungen) Einfluss auf die Personalstellen nehmen.
Im Folgenden erklären Adelheid von Stösser im Dialog mit Andreas Bik die Schwachstellen des Systems und zeigen Ansatzmöglichkeiten zur Verbesserung.
A.v.Stösser: Ein wesentlicher Punkt eurer Pflegesatzverhandlung 2006 war die Nachtdienstbesetzung. Wieso ihr 5 Nachtwachen für 150 Bewohner einsetzen wollt, wo doch andere Heime dieser Größe selten mehr als 3 erforderlich finden, das konnte der Verhandlungsführer auf Kostenträgerseite (in diesem Falle war die AOK zuständig) nicht verstehen. Das bauliche Argument, mit den Wegen zwischen den drei Häusern, reichte alleine nicht. Auch die Erklärungen der Frau Zeutzius (Pflegedienstleitung), die die Notwendigkeit aus qualitativer Sicht darstellte, hätten alleine nicht gereicht. Da ihr wusstet, dass das eine harte Nuss werden würde, diese verhältnismäßig „luxuriöse“ Nachtdienstbesetzung durchzubekommen, habt ihr vorgesorgt. Soweit ich mich erinnere, war zuletzt das Schreiben der Heimaufsicht ausschlaggebend. Wie habt ihr euch vorbereitet? Was waren die entscheidenden Argumente, die schließlich zur Genehmigung dieses Antrags führten?
Andreas Bik: Was letztlich den Ausschlag dafür gegeben hat, dass die Kostenträger einer Erhöhung zugestimmt haben, kann ich wirklich nicht sagen. Ich vermute einmal, es war meine Hartnäckigkeit, denn das war ja nicht der erste Versuch, in der Pflegesatzverhandlung hier einen Durchbruch zu schaffen. Ich denke, was sicher Eindruck gemacht hat, war die Stellungnahme der Heimaufsicht. Als wir vor 4 Jahren unseren Generalumbau abgeschlossen haben, hatten wir nur noch 133 Plätze. In der ersten Verhandlung nach dem Abschluss des Umbaus haben die Kostenträger einen Versuch unternommen, den ursprünglichen Aufschlag, der übrigens auch immer noch in unserer Leistungs- und Qualitätsvereinbarung aus dem Jahre 2006 steht, wieder rückgängig zu machen. Wir haben dann die Pflegesatzverhandlung hier vor Ort geführt und konnten die Kostenträger davon überzeugen, dass sich durch die Platzzahlreduzierung an der grundsätzlichen Situation nichts verändert hat. Ich glaube, ein Erfolg i. S. Personalausstattung hängt von unterschiedlichen Faktoren ab. Einmal sicher von der Kreativität der Einrichtung in Ihrer Verhandlungsführung, sicher auch von Unterstützung von dritter Seite, wie hier durch die Heimaufsicht und natürlich auch von den Menschen, die auf Seiten der Kostenträger sitzen. In unserem Fall sind letztlich alle Faktoren glücklich zusammen gekommen.
A.v.Stösser: Eine ausreichende Personalbesetzung müsste doch auch im Interesse der Krankenkassen sein. Gerade die AOK möchte als Gesundheitskasse verstanden werden. Es ist mir bis heute unbegreiflich, wieso sich Heimleitungen gegenüber der Kasse rechtfertigen müssen, wenn sie, wie in eurem Falle, erklären, dass die Sicherheit nicht gewährleistet werden kann, wenn nur eine Pflegekraft pro Haus für fünfzig Bewohner eingesetzt wird. Nicht nur für die Bewohner, auch für die Mitarbeiter stellt die „Unterbesetzung“ eine Gefahr für Leib und Leben dar, wie wir in anderen Beiträgen darlegen. Müsste es da nicht eher umgekehrt sein, dass sich die Krankenkassen generell für gesündere Bedingungen einsetzen? Außerdem, welchen Vorteil haben Kranken- und Pflegekassen davon, wenn sie sich für Kostendeckelung einsetzen? Die Versicherungen zahlen die festgelegten Sätze pro Pflegestufe/Behandlungsfall unabhängig von der Höhe der Pflegesätze, die verhandelt werden. Wäre es nicht überhaupt viel sinnvoller, einen klar definierten Mindestpersonalschlüssel für alle festzulegen und es darüber hinaus jedem Heimbetreiber freizustellen, mehr als das geforderte Personal einzusetzen?
Andreas Bik: Im Prinzip stellen ja die geltenden Personalstellenschlüssel so etwas wie eine Mindestbesetzung dar. Das Problem ist jedoch, dass hier viel „Gestaltungspielraum“ besteht. Nutzt ein Heim diesen nicht im Sinne einer guten und sicheren Bewohnerversorgung aus, dann sind die Kostenträger bestimmt nicht unglücklich darüber – wirkt sich das doch dann auf die Pflegesätze günstig aus. Und dann kommt auch immer gleich das Argument, die Pflegesätze seien ja eben auch durch öffentliche Gelder gestützt und da gelte eben das Wirtschaftlichkeitsprinzip. Und bei zunehmend knapperer Kassenlage der Sozialhilfeträger besteht von deren Seite natürlich überhaupt kein Interesse, irgendwelchen Abweichungen nach oben z. B. durch eine verbesserte Personalausstattung zuzustimmen. Verschärft wird das Ganze auch noch durch die unterschiedlichen Stellenschlüssel in den einzelnen Bundesländern. In diesem Zusammenhang verweist in unserem Fall der Verhandlungsführer der AOK gerne auf Niedersachsen und meint dann, dort sei ja die Pflege auch nicht schlechter als in NRW, aber die Kosten deutlich günstiger. An diesem Punkt wird außerdem gerne auf die Noten des sog. Pflege-TÜV verwiesen. Hier zeigt sich dann ganz deutlich auch die Perversion des Systems.
A.v.Stösser: Der Pflegebereich ist auf der einen Seite überreguliert, wie das Beispiel der Pflegesatzverhandlungen zeigt, auf der anderen fehlt es hingegen an verbindlichen Vorgaben. 2005 hatten sich Politik und Leistungsanbieter darauf verständigt, der Charta der Rechte hilfe- und pflegebedürftiger Menschen, Pflege-Charta, keine Verbindlichkeit einzuräumen. Noch gut erinnere ich mich an die Aussage eines Sprechers der Wohlfahrtsverbände: „Um diese Charta umsetzen zu können, brauchten wir viel mehr Personal/finanzielle Unterstützung“. Bis heute nehmen die für die Strukturen Verantwortlichen das Missverhältnis zwischen dem erforderlichen und zur Verfügung gestellten Personalbedarf, in Kauf. Ganz bewusst wurde dieser nicht an der Charta, also an den Bedürfnissen und Rechten der Menschen ausgerichtet. Stattdessen unterstützt die Politik ein System der Augenwischerei mit den Pflegenoten. Wir haben schon viele Tage zusammen gesessen und überlegt, wie wir als kleiner Verein wirksam gegensteuern könnten. Von dir stammte die Idee eines Gütesiegels für menschenwürdige Pflege. Ein Prüfsystem, das sich an der Charta ausrichtet und die tatsächlich gelebte, erfahrene Qualität, wie sie bei den Bewohnern ankommt, wiedergibt. Euer Haus ist eines der ausgezeichneten Heime, die sich dieser Prüfung gestellt haben und weiterhin stellen wollen. Dass sich so wenige Heime in der Lage sehen, die Anforderungen dieses Gütesiegels zu erfüllen, hätten wir nicht gedacht.
Andreas Bik: Auch wenn es dafür noch andere Gründe geben mag, sehe ich in diesem Ergebnis die Tendenz zur Scheinheiligkeit in der Branche. An einer ehrlichen Transparenz und Qualitätsdiskussion, wie wir sie uns vorstellen, besteht offenbar kein Interesse. Mir ging es ja bei der Heimauszeichnung darum, dass es für unsere Kunden – also die Bewohner und deren Angehörige – eine Transparenz gibt. Wer ein Heim sucht, sollte erfahren, welche Leistungen in welchem Umfang dort tatsächlich zu erwarten sind. Gemessen werden sollte die Ergenisqualität, also was tatsächlich beim Bewohner ankommt, orientiert an der Pflege-Charta. Dass es bisher nur sehr wenige Heime gibt, die sich diesem Vergleich stellen, liegt m. E. daran, dass bei näherer Beschäftigung mit den Anforderungen klar wird, dass ein Messen hieran dann im Einzelfall das ganze Desaster offen legen würde. Aus dem Bauch heraus wage ich zu behaupten, dass bei einer flächendeckenden Beurteilung der Heime an diesen Kriterien ein sehr erschreckendes Bild heraus käme und offenkundig würde, dass erheblicher Handlungsbedarf besteht. Das aber wiederum passt sicher nicht zur Kassenlage der Kostenträger und auch nicht in das rosa-rote Weltbild der Politiker.
Die offenkundige Ambivalenz zu diesem Thema zeigt sich ja auch ganz deutlich in der widersprüchlichen Haltung der in der Pflege involvierten Akteure. Einerseits wird von der Politik unermüdlich beteuert, dass sich in Deutschland die Pflege auf einem hohen Niveau befinde, was auch die herausragenden Noten der Qualitätsprüfungen des Medizinischen Dienstes der Kassen bescheinigen würden. Auch wird durch die Leistungsanbieter der Pflege ebenso unermüdlich ein Bild der Pflege gezeichnet, das höchsten fachlichen und menschlichen Ansprüchen Genüge tut. Auf der anderen Seite klagen beruflich Pflegende über die schlechten Arbeitsbedingungen und es gibt Protestaktionen wie „Die Pflege liegt am Boden“. Betroffene Pflegebedürftige und Angehörige beklagen ebenso eine unzulängliche und zu teure Unterstützung. Leistungsanbieter klagen wiederum über schlechte finanzielle Rahmenbedingungen und Personalmangel. Und in gemeinsamen Erklärungen fordern dieselben Personen, die ihren Kunden eine fachlich und menschlich hochwertige Pflege versprechen, Rettungspakte für die Pflege ein. Und nicht zuletzt gibt es immer wieder erschütternde Skandalmeldungen von unhaltbaren Zuständen in der Pflege.
Mir passiert es immer wieder, wenn ich sage, die Pflegenoten würden die Realität nicht widerspiegeln, dass ich dann zu hören bekomme, ich solle doch nicht den Pflegemitarbeitern ihre letzte Illusion rauben, dass sie gute Arbeit leisten. Meine Antwort lautet dann immer: Ich bestreite nicht, dass sich die Mitarbeiter in der Pflege redlich abstrampeln, aber wenn sie wollen, dass sich etwas zum Besseren verändert, dann müssen sie sich schon entscheiden: Will ich stolz auf die guten Noten sein oder stehe ich zur Realität? Wer aber nicht zur Realität stehen will und sich mit guten Noten brüstet, der hat kein Recht sich zu beklagen. Über diesen Schatten muss man schon springen können.
A.v.Stösser Ja, es liegt wohl in der Natur des Menschen, die unschönen Realitäten im eigenen Bereich zu verstecken. Die Pflege kann immer nur so gut oder schlecht sein, wie die Pflegenden sie sein lassen. Es sind ja nicht die Politiker, die an den Betten stehen auch nicht die Kassenfunktionäre oder die Heimbetreiber denen wir gerne die Schuld zuschreiben. Auch ich appelliere seit Jahr und Tag an meine eigene Zunft, die Pflegekräfte, das eigene Mittun an dem Ganzen zu bedenken. Solange Heimbetreiber Mitarbeiter finden, die die Dokumentation fälchen, damit ihr Heim gute Noten bekommt, wird diese Augenwischerrei weitergehen. Aber auch Angehörige machen da mit. Es sind immer nur einzelne Angehörigen/Betreuer/Ärzte die genauer Nachfragen, wenn sie Verschlechterungen des Zustands feststellen. Alle anderen scheuen die Nachfrage, weil sie befürchten die Mutter/den Vater aus dem Heim nehmen zu müssen und nicht zu wissen wohin. Die anderen Heime im Umfeld haben schließlich auch alle eine TOP Note und versprechen in ihrer Selbstdarstellung höchste Qualität und individuelle Betreuung rund um Uhr. Wie es wirklich ist, erfährt man erst beim Einzug.
Ausschlaggebend für die Heimwahl ist häufig der Preis und nicht Noten oder sonstige Qualitätsmerkmale, höre ich immer wieder. Weshalb Heimbetreiber bei Pflegesatzverhandlungen eher Richtung Minimierung der Personalkosten tendieren. Vor allem in Regionen mit einem Überhang an Plätzen ist ein Wettbewerb über den Preis festzustellen, der zwangsläufig zu Lasten der Qualität gegen muss. Eure Einrichtung hat in der Region einen der höchsten Pflegesätze, und trotzdem habt ihr kein Belegungsproblem. Im Gegenteil.
Andreas Bik: Das stimmt. Jede Qualität hat ihren Preis. Für schlechte Qualität zahlt man am Ende auf jeden Fall einen zu hohen Preis. Sie ist dann womöglich nicht das Geld wert, das sie kostet und wird mit der Akzeptanz unzulänglicher Bedingungen erkauft. Fast alle die sich für unser Heim entscheiden, haben sich vorher andere angeschaut beziehungsweise sich umgehört. Immer wieder kommen auch Bewohner aus anderen Heimen zu uns. In der Regel hören wir dann: „Lieber zahlen wir einige Euros mehr im Monat für die Betreuung unsere Mutter, als dass wir uns ein Leben lang den Vorwurf machen, sie in ein Heim gesteckt zu haben, wo die Bewohner abgefertigt werden. Immer wenn ich die Mutter in dem Heim XY besucht habe, hat mich die Atmosphäre fast erdrückt. Ich konnte ihr das nicht antun und meinem Gewissen auch nicht. Seit sie hier bei euch ist, lebt sie wieder auf und ich auch“.
A.v.Stösser: Eine gute oder schlechte Atmosphäre beeinflusst natürlich auch die Mitarbeiter. Eigentlich dürften in vielen Regionen keine neuen Heime in Betrieb genommen werden, wo die Bestehenden jetzt schon keine Pflegekräfte finden um ihre Stellen besetzen zu können. Vor allem Fachkräfte fehlen. Wie sieht die Personalsituation in eurem Heim aus?
Andreas Bik: Unsere langjährige Strategie, gute Pflege anzubieten und dafür eine entsprechende Personalausstattung verhandelt zu haben, zahlt sich auf jeden Fall aus. Über die Zahlung von Tariflöhnen – wir zahlen nach den Arbeitsvertragsrichtlinien der Caritas, die sich ganz wesentlich am TVöD orientieren – will ich dabei kein Wort verlieren, weil das eine Selbstverständlichkeit ist. Entscheidend ist, dass wir durch unsere etwas bessere Personalausstattung auf jeden Fall eine sehr hohe Mitarbeiterzufriedenheit haben. Dies wird uns alljährlich im Rahmen einer Befragung in einem Benchmarking-Projekt bescheinigt. Ich kann das auch daran ablesen, dass wir, bis auf das altersbedingte Ausscheiden oder das aus gesundheitlichen Gründen, keine Fluktuation unter unseren Mitarbeitern haben. Und zufriedene Mitarbeiter bringen das auch gegenüber den Bewohnern und Angehörigen rüber. Und der Funke springt auch weiter über. So haben wir zum Beginn des kommenden Ausbildungsstarts im Oktober 7 Auszubildende, die neu starten und zuvor bei uns mit der Pflege in unterschiedlicher Weise in Berührung gekommen sind. Wir haben im Übrigen auch schon vor Einführung der Ausbildungsumlage immer schon für unseren Nachwuchs gesorgt, so dass ich schon Jahre lang keine Stellenausschreibung mehr tätigen musste. Auch Leiharbeitskräfte sind bei uns ein Fremdwort. Nicht zuletzt springt die gute Atmosphäre auf die Angehörigen über. Die Mehrzahl der Ehrenamtlichen sind ehemalige Angehörige, die sich heute hier in unterschiedlicher Weise engagieren und so auch zu einem lebenswerten Leben für die Bewohner beitragen. Das ist einfach schön zu erleben. Da weiß man, dass der eingeschlagene Weg, die Qualitätsfahne hoch zu halten und nicht dem Aldi-Prinzip zu folgen, der richtige war.
A.v.Stösser: Wenn man euer Beispiel sieht: Hohe Belegung – trotz höherer Preise, überdurchschnittlich viel Personal im Tag- und Nachtdienst, bessere Bezahlung des Personals, wenig Fluktuation und Krankenstand, stellt sich die Frage, wieso nur wenige Heime diesen Ansatz wählen. Die Geschäftsführung eures Unternehmens, deine Kollegin Frau Hannweg und du, ihr setzt auf Qualität, nicht nur aus menschlichen und christlichen Gründen, sondern auch weil du erfahren hast, dass die Rechnung aufgeht. Euer Ziel ist es nicht, Gewinne zu erwirtschaften, sondern den Betrieb im Sinne des eigentlichen Zwecks der Stiftung St. Ludgeri zu führen. Was macht ihr denn mit Gewinnen, falls ihr welche macht?
Andreas Bik: Überhaupt eine schwarze Null zu schaffen, wird von Jahr zu Jahr leider immer schwieriger. Das liegt aber auch ein Stück weit daran, dass die uns von den Kostenträgern vorgehaltenen angeblich auskömmlichen Durchschnittskosten in Wirklichkeit nicht auskömmlich sind. Diese Kostendeckelung, z.B. im Bereich der Verpflegung, ist aber wiederum das Resultat aus Pflegesatzverhandlungen, bei denen leider die meisten Kolleginnen und Kollegen (Geschäftsführerinnen und Geschäftsführer anderer Heime der Region) gegenüber den Kostenträgern kapituliert haben. Wir haben daher versucht, neben dem über die Pflegesätze refinanzierten Kerngeschäft sog. wirtschaftliche Geschäftsbetriebe zu schaffen, die dazu beitragen, die Defizite aus dem pflegesatzrefinanzierten Bereich auszugleichen. Wer heute mit einem Heim regelmäßig Überschüsse erwirtschaftet, der ist mir persönlich suspekt, weil ich aus eigenem Erleben weiß, dass das mit lauteren Mitteln nicht zu schaffen ist.
A.v.Stösser: Ich komme nochmals auf die Frage zurück, warum leider nicht euer Beispiel Schule macht, sondern allgemein die Tendenz besteht, so wenig wie möglich Personal einzusetzen und keine Tariflöhne zahlen zu müssen. Dabei geht es nach meiner Erfahrung den wenigsten Heimbetreibern primär darum, Gewinne zu machen. Fast alle mit denen ich mich unterhalten habe, sind mit den besten Vorsätzen gestartet. Mein Eindruck ist eher, dass Heimbetreiber selten die Voraussetzungen mitbringen, um ein solches Unternehmen zu führen. Oft fehlt es an betriebswirtschaftlichen oder sozialen Kompetenzen. Die Führungsspitze vereint selten alle erforderlichen Fähigkeiten. Wenn die Führung zu sehr wirtschaftlich ausgerichtet ist und die soziale Komponente vernachlässigt, kann kein gesundes Miteinander entstehen. Achtet die Führung hauptsächlich auf das Soziale und verliert die Kosten aus dem Blick, wird es früher oder später zur wirtschaftlichen Schieflage kommen. Dieses Problem habt ihr gelöst, durch eine Doppelspitze auf Geschäftsführungsebene. Frau Hannweg, Sozialpädagogin, ist für die soziale Komponente des Unternehmens da und du, als diplomierter Betriebswirt für die wirtschaftliche Führung. Diese Organisationsform dürfte fast ein Alleinstellungsmerkmal sein. Allgemein besteht jedenfalls die Bestrebung, auch aus Kostengründen, eine Heimleitung für mehrere Heime einzusetzen. Wieso hat die Stiftung St. Ludgeri diese Organisation gewählt? Ist das nicht teurer? Schließlich müssen zwei Chefgehälter bezahlt werden.
Andreas Bik: In der Tat ist eine solche Führungsstruktur für die Welt der Kostenträger fremd. So ist hier in der Pflegesatzverhandlung auch ein Stück weit Kreativität gefragt. Letztlich ist es aber so, dass wir nicht den letzten Euro über die Pflegesätze refinanziert bekommen. Diese Struktur war aber vor über 15 Jahren eine Entscheidung unseres damaligen Kuratoriums. Auch das ist sicher ein Zeichen in Sachen Qualitätsoffensive und macht das Besondere unserer Einrichtung aus. Nach meiner langjährigen Erfahrung in der Geschäftsführung unseres Hauses, hat sich diese Strategie durchaus bezahlt gemacht, auch wenn sich das in Euro und Cent nicht bewerten lässt. Das ist in etwa vergleichbar mit Werbeaufwendungen. Da weiß man auch nicht, ob sie unter dem Strich gewinnbringend waren. Ob es so war, setzte voraus, man würde den Alternativfall testen und ließe sie weg. Bricht dann alles zusammen, hätte man zwar den Beweis, aber dann ist es zu spät.
A.v.Stösser: Zusammenfassend lässt sich aus eurer und unserer Erfahrung sagen, dass der bisher ein „Best Praktice Effekt“ leider nicht festgestellt werden kann. Andere Heimbetreiber sehen offenbar noch keine Notwendigkeit auf Qualität zu setzen, weil sie die Erfahrung machen, dass sich die Menschen von den schönen Fassaden, der Eigenwerbung und den Noten blenden lassen und im übrigen aufs Geld schauen. Solange man mit dieser Strategie die Häuser voll bekommt, wird es nur vereinzelt Ausnahmen geben, die wie Heimbetreiber und Geschäftsführung des St.Ludgeri eine höhere Qualität verhandeln. Es liegt wohl in der Natur des Menschen, dass dieser von alleine selten höher springt als er muss. Da wir es in der Pflege jedoch mit Menschen zu tun haben, die nicht zuletzt ein Recht auf Achtung der Menschenwürde haben, dürfen wir die Augenwischerei, wie sie derzeit betrieben wird, nicht hinnehmen. Was sich des Nachts in Pflegeheimen abspielt, möchte wohl niemand wirklich wissen. Bei der durchschnittlich üblichen Besetzung in deutschen Heimen, ist nicht einmal sichere Pflege zu gewährleisten, geschweige denn, dass Bewohner zeitnahe Hilfe erhalten. Die Scheinqualität in unseren Heimen hat auch ihren Preis. Unsere alten Mitbürger, Mütter/Väter und andere Familienmitglieder werden an Seele (Psychopharmaka) und Körper fixiert, damit sie nicht unkontrolliert herumlaufen und sich oder andere verletzten. In meinen Augen ist das mit die größte humanitäre Verfehlung einer Gesellschaft. Schlimmers kann man einem Menschen kaum antun, als ihn seiner Bewegungsfreiheit und Ausdrucksmöglichkeit zu berauben.
Michael Hoverath hat für den WDR im St. Ludgeri gefilmt und mit Herrn Bik gespochen, sehen Sie hier den Beitrag vom 03.05.2015 auf Westpol: Nächtliche Pflege
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