Ausgerechnet Thomas Klie spricht sich gegen Mindesstandards für den Nachtdienst aus

Prof. Dr. Thomas Klie dürfte jedem in der Branche als Experte für Pflegerecht ein Begriff sein.  Vor allem im Bereich der Altenpflege ist er ein vielgefragter Referent und Ratgeber, sowohl auf landes- wie bundespolitischer Bühne.   Am 19. Januar 2017  war Klie der Hauptredner bei der Veranstaltung,  Nachtbesetzung in der stationären Altenpflege, in Düsseldorf.  Im Schulterschluss mit Barbara Steffens, der Ministerin für Gesundheit, Emanzipation, Pflege und Alter des Landes Nordrhein-Westfalen (MGEPA), vertrat er dort die Auffassung, dass die Politik weiterhin auf  die Pflegeselbstverwaltung setzen, also die Festlegung des Personals jeder Einrichtung überlassen sollte.  Dies war um so erstaunlicher, als er für diese Meinung nicht ein einziges, schlüssiges Sachargument anführen konnte. Ebenso  schwammig und unverständlich blieb seine Antwort auf die Frage,  warum ausgerechnet er als Jurist gegen die Festlegung von Mindeststandards sein kann, angesichts der Skandale und Missstände in Altenheimen, die bekanntermaßen auch strukturelle Ursachen haben.

Wenn eine Ministerin,  wie Frau Steffens, nach Ausflüchten sucht, kann man das  noch irgendwo verstehen. Ihr fehlt das Insiderwissen, sie kann sich manches nicht vorstellen und ist außerdem  geneigt, zunächst einmal alles abzuwiegeln, was höhere Ausgaben erwarten lässt. Von einem Fachjuristen und Wissenschaftler wie Prof. Klie, der seit Jahrzehnten mit den strukturellen und personellen Problemen in der Pflege befasst ist,  sollte man hingegen erwarten können, dass er nachvollziehbare Gründe für die Ablehnung verbindlicher Mindeststandards aufzeigen kann, oder aber  in der Lage ist eine alternative Lösung vorzustellen.

Im Übrigen bildeten die Befürworter von  Mindestvorgaben für die Nachtbesetzung eine deutliche Mehrheit.  Dies lag wohl daran, dass Ver.di  Mitveranstalter war.  Sowohl auf dem Podium als auch im Publikum waren Betriebsräte  mit hohem Anteil vertreten.  Mein Nachbar auf dem Podium, Herr Beyer-Peter,  Betriebsratsvorsitzender im AWO-Seniorenzentrum Recklinghausen,  ging in seiner Forderung sogar noch über die des Pflege-SHV hinaus.    Er forderte eine Nachtwache für jeden Wohnbereich und erläuterte, warum in der Nacht ausschließlich Fachkräfte eingesetzt werden müssten. Dafür erhielt er von wenigstens 80 Prozent der Teilnehmer, im vollbesetzten Saal,  zustimmenden Beifall.   Auch bei den verschiedenen Akteuren, die in einem  Filmbeitrag zur Situation im Nachtdienst befragt wurden,  herrschte Übereinstimmung, dass die übliche Nachtdienstbesetzung mit gefährlicher Pflege gleichzusetzen ist.  Lediglich die Dame  von der Heimaufsicht ging davon aus, dass die Nächte ausreichend besetzt sind, weil diesbezüglich keine Beschwerden eingehen würden.
Als Vorzeigehaus wurde im Filmbeitrag die Stiftung St. Ludgeri  in Essen herausgestellt und dem Geschäftsführer, Andreas Bik,  Gelegenheit gegeben, zu erklären, warum sein Haus eine  überdurchschnittliche Nachtdienstbesetzung hat.     Er hatte 2006 bei einer Pflegesatzverhandlung, in einem harten Verhandlungskampf durchgesetzt, zwei Pflegekräfte im Nachtdienst mehr einsetzen zu dürfen, als in Häusern gleicher Größenordnung üblich.  Auf seinen Antrag hin, wurde ich  zu dieser Verhandlung – unter der Auflage der Verschwiegenheit – als Gast zugelassen.   Transparenz sieht anders aus.   Die Kostenträger (Pflegekassen und Sozialhilfeträger) nehmen  in den Pflegesatzverhandlungen zumeist eine sehr restriktive Haltung ein, was letztendlich zu einer Kostendeckelung und schließlich Peronalreduzierung führt.  Bezogen auf die Nachtdienstbesetzung gilt es in NRW schon als Luxusbesetzung, wenn bei 120 Pflegeplätzen, drei Nachtwachen eingeplant sind, davon zwei Fachkräfte, erklärte eine Teilnehmerin.

Den Ausführungen von Thomas Klie, der vollständig auf  individuelle Regelung in der Verantwortung der Heimbetreiber setzt, hällt Andreas Bik entgegen: Das Eine zu tun ohne das Andere zu lassen. Also einen Mindeststandard als „Basisline“ einzuführen und darüber hinaus individuelle Regelungen zuzulassen.  Es braucht schon deshalb verbindlicher Mindeststandards, weil es ansonsten für die Prüfbehörden unmöglich ist, konkret etwas zu prüfen. Nur wenn es Vorgaben gibt, kann man feststellen ob diese eingehalten werden oder nicht.  „Wie ein solcher Mindeststandard auszusehen hat, müsste man noch erörtert.   Er sollte aber so beschaffen sein, dass Heimträgern keine Hintertüren geöffnet werden.“ Ferner erinnerte Bik daran, dass es vor Einführung der Pflegeversicherung in NRW einen separaten Stellenschlüssel für den Nachtdienst gegeben hat.

Im Gegensatz zu Prof. Klie,  betonte  Dr. Harry Fuchs die Notwendigkeit verbindlicher Mindeststandards – sowohl am Tag wie in der Nacht. „Zumindest solange, wie die Vertragsparteien ihre gesetzliche Pflicht nicht erfüllen, durch Personalrichtwerte ein weiteres ausufern der schon begonnenen desaströsen Entwicklung in der Pflege abzublocken.“  Mit Blick auf die unvereinbaren Interessensgegensätze von Kostenträgern, Einrichtungsträgern, aber auch Angehörigen hält Fuchs ein verbindliches Regelwerk für unverzichtbar.

Auf die widersprüchliche Haltung der  „Gesundheitskasse“  angesprochen, erklärte Podiumsteilnehmer Ludger Euwens,  Bereichsleiter Pflege der AOK-Rheinland/Hamburg,   dass sich die AOK auch für Qualität einsetze.  Außerdem sehe die Kasse nicht nur die Kosten,  sondern auch das fehlende Personal. Nach seiner Hochrechnung müssten 2.000 zusätzliche Stellen besetzt werden, würde  NRW dem Beispiel Bayerns folgen und dafür sorgen, dass die bessere Besetzung der Nachtdienste nicht zu Lasten der Tagdienstbesetzung geht.  Damit unterstützte der Kassenvertreter die Position der Ministerin, die mehrfach behauptet hatte, dass unter der Einführung des Nachtwachenschlüssels in Bayern die Tagdienste leiden.  Ich konnte dieses Herumgerede kaum ertragen und habe  unverkennbar zum Ausdruck gebracht, dass dies  Ausreden sind, mit der sie sich vor der Verantwortung zu drücken versucht.

Mein Hauptargument, dass die heute übliche Nachtwachenbesetzung nur möglich ist, weil es üblich und erlaubt ist, die alten Menschen medikamentös so einzustellen, dass sie sich abens um 7 ins Bett legen lassen und bis morgens liegen bleiben, sorgte wie gewöhnlich für einigen Protest.  Dabei müsste die Personaldebatte genau an dieser Praxis ansetzen, nämlich mit der Forderung:  Pflegeheime sind personell so auszustatten, dass kein Mensch ruhiggestellt und fixiert wird, weil menschliche Zuwendung nicht geleistet werden kann.

Im Referat von Prof. Klie erfuhren wir so nebenbei, dass sich die aktuell in den Schlagzeilen stehenden Gewalttaten  im rheinlandpfälzischen  Seniorenhaus „Lambrechter Tal“ während der Nachtdienste zugetragen haben.  Die  Presse machte dazu bisher keine Angabe.  Das hat mich natürlich besonders hellhörig werden lassen. Zumal die Einrichtung ausgerechnet Karla Kämmer beauftragt hat, die Ursachen zu prüfen.  Es würde mich nicht wundern, wenn auch in diesem Falle das Büro Kämmer,  personaloptimierend tätig war, wie in der DRK-Einrichtung Kronach.  Ich erinnere daran, dass die Vorgänge dort dazu führten, dass der Pflege-SHV den Nachtdienst zum Brennpunktthema erklärte und das bayerische Ministerium schließlich Konsequenzen zog. Zudem hatte eine Erhebung der Nachtdienstbesetzung  Unterschiede zu Tage förderten, die zeigten, dass die Pflegeselbstverwaltung an der Stelle völlig versagt.  Im  Seniorenheus Lambrecht, mit 125 Plätzen, dürften die Nachtdienste bestenfalls mit drei  Nachtwachen besetzt sein. Möglicherweise waren sie auch nur mit zwei Pflegekräften besetzt, jenen beiden Hauptverdächtigen, die jetzt in Untersuchungshaft sitzen.  Diese  konnten  nachts „die Sau raus lassen“, was tagsüber nicht möglich gewesen wäre.  Im Tagdienst zeigten sie ihr anderes Gesicht.  In  RLP galt bis in die jüngste Zeit ein ungeschriebener Richtwert von 1:70.  Prof. Klie, der nach eigenen Angaben in diesem Falle auch zu Rate gezogen wurde, müsste es wissen.  Laut einhelliger Pressemeldung sehen Experten und Staatsanwaltschaft keinerlei strukturelle Gründe für die hier verübten Gewalttaten.  Die Heimleitung darf ihre Hände in Unschuld waschen, ebenso wie die Strategen und Verantwortlichen im Ministerium.

Thomas Klie gehörte wohl auch zu den Ratgebern, die das Sozialministerium  Rheinland-Pfalz  bei der Neufassung des Heimgesetzes hinzugezogen hat.  2016 wurde das Landes-Wohn- und Teilhabegesetz (LWTG)  in RLP überarbeitet. In der jetzt gültigen Fassung findet man keine einzige Angabe zum Personalbedarf  in Heimen, weder qualitativ noch quantitativ. Wir vermuten, dass  Angaben zum Personalschlüssel deshalb nirgendwo mehr öffentlich zugängig sind, um den vielen die sich über Personalmangel beschweren und nachzurechnen versuchen, wieviel Personal in Heimen vorgehalten werden muss, keine  Anhaltszahlen vorzulegen.

Fazit dieser durchaus spannenden Veranstaltung

Die Notwendigkeit von Mindeststandards in der Nachtbesetzung wurde ganz klar unterstrichen.   Barbara Steffens, wie wohl auch die  Mitglieder ihres Ministeriums, haben  einiges mit auf den Weg bekommen und wohl auch gespürt, dass sie eine Mitverantwortung tragen – für die untragbare Situation.  Der Pflege-SHV hat diese Debatte 2014 mit dem Aufruf zur Soforthilfe losgetreten. Ver.di hat das Anliegen aufgegriffen und wird wohl auch nicht locker lassen.  Hoffnungsvoll stimmt alleine schon, dass sich das Ministerium auf den Austausch mit Ver.di in dieser Sache eingelassen hat.

 

6 Kommentare

  1. seit meinem letzten Kommentar hat sich leider nahezu nichts zum Positiven geändert. Konkretes Beispiel: In einem neuen Seniorenstift des ASB, wo zu Pflegende auf 2 langgezogene Etagen ( 1.Stock / 2.Stock)verteilt sind war es bisher üblich Nachts nur eine examinierte Pflegekraft einzusetzen. Die verantwortliche Stationsleiterin hinterliess nur ihre Telefonnummer, unter der Sie regelmäßig jedoch „nicht“ zu erreichen war.

  2. Gratulation für Ihren wichtigen, offenen Beitrag. Ohne vereinzelte „Whistleblower“ wäre das z.T. korrupte Pflegekartell immer noch
    anonym? Die „Whistleblower“ die die zum Himmel schreienden, auch strafbaren Missstände aufdecken werden ausgegrenzt, diskreditiert und unter höchst suspekten Scheinargumenten entlassen. Durch Mund zu Mund Propaganda wird dafür gesorgt dass diese Pflegekräfte meist KEINE Stelle in der Pflege mehr bekommen.
    Hoch qualifizierte Pflegekräfte (examinierte Krankenschwestern) werden wegen der berechtigten Kritik , im Sinne der zu Pflegenden, ausgegrenzt. Heimleitungen- MDK – Politprofis bilden offensichtlich ein erfolgreiches Pflegekartell ? Quo vadis Pflege….

    Hans Christoph
    ehemaliger ASB Kreisvorsitzender
    Rettungssanitäter
    aktives Mitglied des Pflege-Selbsthilfeverbandes

  3. Mindestandard?
    Weiterhin keine Kontrolle. Oder alles Note 1. Man nimmt einfach die Pflege aus der Bewertung??
    Ohne Whistleblowersystem wird das nichts.
    Wer das nicht will – Staat, Länder, Kirchen, Wirtschaft. Pflegeselselbstverwaltung – ist nicht glaubwürdig.
    Da nützen auch keine Events, keine Preisverleihung.

  4. Es ist unverständlich wie man sich um Mindeststandards herumdrückt in der Pflege. Warum gibt es Standards bei der Kinderbetreuung? Richtig, hier kann man bei Wählern punkten. Ich sage es mal ganz brutal: Die im Pflegeheim zu betreuenden Menschen befinden sich im Vorzimmer zum Friedhof. Man sieht sie nicht, sie beschweren sich nicht. Probleme löst die Zeit. Fertig.

    Eine Umfrage der Stiftung Zentrum für Qualität in der Pflege gibt zwar ein anderes Bild. Pflege ist durchaus ein Thema für die Bürger. Man will gute Pflege. Für mich unverständlich wie sich hier verantwortliche Menschen und Politiker um eine klare Aussage drücken. Für alles gibt es Standards und Richtlinien.

    Ich kann nur dazu aufrufen, sich zu wehren gegen diese Haltung gegenüber auf Hilfe angewiesen Menschen. Es kommt der Tag, wo es jeden trifft. Wir sind Menschen und keine Maschinen. Nur weil viele Bürger wegsehen, kann die Pflege kostenoptimiert zum Nachteil der zu pflegenden gestaltet werden. Jeder sollte sich die Frage stellen, ob er mal so behandelt werden möchte.

  5. Demnach ist an 16 Nächten eine Fachkraft für 131 Bewohner verantwortlich. In welchem Bundesland liegt das Heim? Was bedeutet Klingeldienst? Ich nehme an, sie meinen eine zusätzliche Kraft, die auf die Klingeln geht, damit die beiden Nachtwachen ungestört ihren ersten Rundgang machen können.

  6. Ich arbeite in einem Altenheim mit 131 Bewohnern,wir sind mit 2 Pflegekräften(16 Nächte im Monat arbeiten wir mit 1 Fachkraft und einer Hilfskraft ,die anderen Nächte mit 2 Fachkräften) und einen Klingeldienst von 22:00 – 23:45,Abendbetreuung ist mit ca 12 Bewohnern von 19:45 – 21:00.Die Demenz der Bewohner braucht immer mehr Zeit,in der Nacht.
    Die Demenz wird jetzt auch anders bezahlt über die Pflegestufe,dass ist jetzt besser geregelt.Die weiten Wege in der Nac.ht ist ein grosses Problem.
    Die Bewohner müssen natürlich lange warten

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