Aufruf an Bremens Bürgerschaft

Am 20 Februar 2017 erfahren wir, dass  Bremen am 23. Februar  ein neues Wohn- und Betreuungsgesetz beschließen will. Unter anderem soll damit ein Mindestpersonalschlüssel für den Nachtdienst von 1: 50  festgelegt werden.  Während der Pflege-SHV, die BIVA, Pflegewissenschaft, Berufsverbände, Ver.di und  andere, die durchschnittlich in Deutsland anzutreffende Besetzung von einer Nachtwache für fünfzig Pflegebedürftige für gefährlich und verantwortungslos halten, will Bremen diese zum Standard erklären.  Mit nachfolgendem Schreiben  appellieren wir an alle an diesem Gesetzesverfahren Beteiligten, diesen Punkt neu zu verhandeln.  Das Schreiben wurde per E-Mail  am 21.02.2017 verschickt.

Sehr geehrte Mitglieder der Sozialdeputation,
sehr geehrte Abgeordnete der Bürgerschaft Bremens.

Wie wir erfuhren zeichnen Sie für das Bremische Wohn- und Betreuungsgesetz (BremWoBeG)  Mit-Verantwortung,  das auf der Sitzung der Sozialdeputation am Donnerstag den  23.02.2017 beschlossen werden soll.

Nachdrücklich möchten wir Sie bitten über die Nachtdienstbesetzung nochmals ernsthaft nachzudenken.  Die im BremWoBeG vorgesehene Mindestbesetzung der Nachtdienste mit nur einer Pflegekraft für bis zu 50 BewohnerInnen  ist ein Zustand, den es in deutschen Pflegeheimen nicht geben dürfte.  Der Pflege-Selbsthilfeverband e.V., eine bundesweite Initiative für menschenwürdige Pflege,  fordert  einen Mindestpersonalschlüssel von 1: 30 für den Nachtdienst und begründet diese Forderung  unter anderem mit diesem

Notruf:  http://nachtdienst-soforthilfe.de/notruf-an-alle-verantwortungstraeger/

Uns würde interessieren, wer konkret namentlich hinter dieser Meinung  (§ 7 Abs. 3 des BremWoBeG) steht:  „In den Nachtdiensten ist eine geringere Fachkraftbeteiligung erforderlich, als am Tage. Planbare Fachkrafttätigkeiten können und sollen im Tagdienst vorgenommen werden, nachts ist die Beteiligung einer Fachkraft nur bei unvorhersehbaren Ereignissen und in Notfällen erforderlich. Es wird daher als ausreichend angesehen, wenn in einer Einrichtung nachts eine Fachkraft anwesend ist. Bei besonders großen Einrichtungen mit zeitaufwändigen Wegen zwischen den Wohnbereichen kann die zuständige Behörde mehr als eine Fachkraft fordern.“   Das ist eine Behauptung hinter der  alleine der Blick auf die Kosten steckt.   Risiken und Gefahren, denen die Betroffenen ausgesetzt sind, können jedenfalls nicht bedacht worden sein.

Nicht nur unser Selbsthilfeverein auch die Pflegewissenschaft und  ver.di  halten  die übliche Besetzung der Nachtdienste (1:50 entspricht dem ungeschriebenem Standard deutschlandweit) für unmenschlich,gefährlich, verantwortungslos!!!  http://nachtdienst-soforthilfe.de/studie-bestaetigt-hochgradige-gefaehrlichkeit-der-nachtdienstbesetzung/

Bisher ist Bayern das einzige Bundesland, indem die Politik der Gefährlichkeit bisheriger  Nachtdienstbesetzung  Rechnung trägt. Dort hat sich die Politik gegen den Widerstand der Leistungsanbieter-Lobby durchgesetzt und eine  Mindestschlüssel von 1:30  festgelegt, wenn auch leider noch mit vielen Schlupflöchern.   In anderen Bundesländern tut man sich hingegen schwer, wie Sie  u.a. diesem  Bericht  entnehmen können: http://nachtdienst-soforthilfe.de/ausgerechnet-thomas-klie-spricht-sich-gegen-mindesstandards-fuer-den-nachtdienst-aus/

Sind Sie tatsächlich alle der Ansicht, dass eine Pflegekraft in der Lage sein kann bis zu 50 gebrechliche alte, verwirrte, kranke, nachtaktive und sterbende Menschen auch nur annähernd gerecht zu werden? Jeder der selbst einmal in einer hilflosen Lage war, eine schwere Krankheit hatte oder der einen Angehörigen in der letzten Phase des Lebens bis zum Tod begleitet hat, kann sich vorstellen, dass hier große Ängste vorherrschen. Vor allem Nachts, wenn es keine Ablenkung gibt und niemand in der Nähe ist, der Trost spendet.  Es sind nicht zuletzt Ängste,  Ausweglosigkeit, Einsamkeit, Gefühle des Verlassen-worden-seins etc. die alte Menschen um den Schlaf, ja sogar  um den Verstand bringt.  Anstelle menschlicher Zuwendung werden Medikamente verabreicht. Sedativa, Antidepressiva, Neuroleptika und andere Psychopharmaka.  Eine Nachtdienstbesetzung von 1:50 ist überhaupt nur möglich, weil es üblich ist, HeimbewohnerInnen medikamentös so einzustellen, dass sie ruhe geben und liegen bleiben.
Wir reden hier von unseren Eltern und Großeltern, also von der Generation, die zu unserem Wohlergehen beigetragen hat, in Zeiten als dies noch schwieriger war als heute.   Wir reden hier von Menschen die am Ende ihres Lebens angekommen sind, für die das Heim die letzte Wohnstadt ist.  Also von Menschen die genau so viel Hilfe und Begleitung brauchen, wie Krebskranke im Endstadium.  Und wir werden alle alt.

Wir fordern einen Mindeststandard von 1: 30 und in Einrichtungen für Demenzkranke von 1:20.  Denn es darf nicht hingenommen werden:

  • dass hilfebedürftige Menschen durch Neuroleptika, Sedativa und andere Mittel in eine noch hilflosere Lage hineintherapiert werden, weil menschliche Begleitung zu teuer erscheint,
  • dass sterbende Menschen alleine gelassen sind, vor allem in der Nacht,
  • dass Heimbewohner  von Abends um 7 bis morgens um 7 gezwungen sind in ihren Betten zu bleiben, weil die Personalausstattung im Nachtdienst keine Zeit für menschliche Begleitung und Beschäftigung lässt,
  • dass Heimbewohner in der Nacht oft sehr lange auf Hilfe warten müssen und  Gefahren ausgesetzt sind, weil das Personal nicht reicht um wichtige Sicherheitsvorschriften einhalten zu können,
  • dass Pflegekräfte im Nachtdienst komplett auf sich alleine gestellt sind und den Rettungsdienst oder die Polizei rufen müssen, wenn sie mit einer Situation alleine nicht klar kommen.
  • dass Pflegefachkräften im Nachtdienst eine  Verantwortung aufgebürdet wird, die sie  gar nicht tragen können.

Bitte denken Sie darüber nach und beantragen Sie eine Neuverhandlung des § 7 (3).

Sollte das BremWoBeG mit der Nachtdienstvorgabe von 1: 50 am Donnerstag mehrheitlich abgesegnet werden,  werden wir das neue Gesetz in Bremen als ein Beispiel für strukturelle Gewalt auf unserer Sonderseite: www.nachtdienst-soforthilfe.de  herausstellen.  Abgeordnete, die unsere Bedenken teilen und dagegen gestimmt haben, können wir gerne auf dieser Seite hervorheben.  


Nachtrag:  25.02.2017   Einspruch wurde Angenommen.  Bremer Heimgesetzt soll nachgebessert werden.

Nicht zuletzt durch oben stehenden Einspruch des Pflege-SHV wurde die für den 24.02.2017 geplante Verabschiedung des BremWoBe kurzfristig von der Tagesordnung gestrichen, wie unter anderem die taz berichtet   Wenn auch der Pflege-SHV namentlich nicht erwähnt wird, so bezieht sich der Artikel doch in erster Linie auf die oben stehende Eingabe.
Vor allem jedoch gebührt dafür Reinhard Leopold dank,  www.heimmitwirkung.de, der sofort reagiert und nicht locker gelassen hat.  Ohne seinen Aufruf hätte ich  von diesem Gesetzesvorhaben nicht erfahren.  Scheinbar wurde seitens der Landespolitik versucht ganz schnell, Tatsachen zu schaffen ohne Mitwirkung der Betroffenen.
Der Pflege-SHV unterstützt ausdrücklich auch die von Leopold  und der BIVA ausgeführte Kritik an den kostenlosen Beratungen von Heimen durch Aufsichtsbehörden.

Stand 09.11.2017: Bremens Bürgerschaft beschließt neues Heimgesetz.  Statt des zuvor vorgesehen Nachtwachenschlüssels von 1:50, gegen den die Vorsitzende des Pflege-SHV erneut in der letzten Woche angeschrieben hat,  wurde jetzt eine Mindestbesetzung von 1:40 festgelegt.  Immer noch zu wenig, um pflegebedürftigen Menschen in der Nacht die notwendige Hilfe und Sicherheit gewährleisten zu können.   Alle übrigen Protestpunkte wurden ignoiert.   Lesen Sie hier den Pressebeitrag von Reinhard Leopold auf heimmitwirkung.de

1 Kommentar

  1. Trotz erheblicher Proteste beschlossen!

    Debatte und endgültiger Beschluss im Bremer Parlament nach der Sommmerpause erwartet

    Die Bremer Sozialsenatorin Anja Stahmann ignoriert erhebliche Proteste u.a. von Deutschem Pflegerat, Pflege-Berufsverband, Gewerkschaft ver.di, Verbraucherzentrale, Pflegebetroffenen und setzt sich auch gegenüber den Oppositionsparteien in der Sozialdeputation durch. Das Bremische Wohn- und Betreuungsgesetz wurde zunächst am 01.06.2017 von der rot-grünen Mehrheit der Sozialdeputation beschlossen.

    Die nächste Bürgerschaftssitzung des Landtags findet statt am 23.08.17 + 24.08.17 von 10:00 – 18:00 (s. https://www.bremische-buergerschaft.de/index.php?id=74)

    Ob das Gesetz dann endgültig in der Form auch in der Bremer Bürgerschaft „durchgewunken“ wird … ?

    Wir werden nicht aufgeben genau das zu verhindern!

    Weitere Infos unter
    http://www.heimmitwirkung.de/smf/index.php?topic=504

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